Ein Tor hinaus

für unser Empfinden und Erleben Worte finden

"Heute haben wir die Extemporale rausbekommen: 4!!!  Mutti hat arg geschimpft. (viel zu sehr) (großer Krach). Ich weiß ja selber, dass ich mehr lernen muss, aber nun hat sie wieder mit Partyverbot gedroht, wo ich doch so wenig fortgehe...."

 

Tagebucheintrag 2.6.1978

 

So naiv diese Sätze klingen, im ersten Tagebucheintrag meines Lebens, habe ich doch meine Überlegungen als 13- Jährige niedergeschrieben und mir viele Gedanken gemacht, nicht nur über mein eigenes Leben.

 

"Habe mir den Film "Jesse James" angeschaut: was für eine Ungerechtigkeit! Er wurde verraten, für eine Belohnung und hat seine Frau und seinen Sohn doch so geliebt! Er wollte neu anfangen. Manchmal denke ich, warum lässt Gott eine solche Ungerechtigkeit zu? Ich weiß es nicht und bin verzweifelt. Warum ließ Gott Hiroshima geschehen?- Ich begreife es nicht- bis morgen" 3.6.1978

 

 

Über das Schreiben zu schreiben ist etwas sehr Persönliches für mich, ich lade Sie heute ein, mit mir über etwas nachzudenken, was für mein Leben sehr förderlich war und noch heute für mich von unschätzbaren Wert ist. Seit Jahrzehnten, schreibe ich Tagebuch in unterschiedlichen Formen, immer ist es der Wunsch herauszutreten aus meiner inneren Welt, einen Weg zu finden aus der Einsamkeit und Sprachlosigkeit. Mein Tagebuch ist ein Schatz voller Erinnerungen an meine Jugend. Tagebuch schreiben ist ein tiefgehender, persönlicher Prozess und möchte nicht mit dem Blogs und Kommentaren verwechselt werden, die viele Leute, die sich in voyeuristischer und selbstverliebter Art und Weise im Internet zur Schau stellen, veröffentlichen.

 

 

 

Worte zu finden ist gar nicht so einfach, spätestens nach meinen

 

schlechten Deutschnoten wurde mir dieser Wunsch vergällt. Meine

 

Aufsätze in der Schule waren unglaubwürdig und zu

 

phantasievoll, wurde ich doch belehrt: schreiben ist nichts für mich! Und doch konnte niemand dieser Sehnsucht mich mitzuteilen, Einhalt gebieten.

 

Beim Schreiben kann ich tief in mich hineinhorchen und gleichzeitig

 

verbinde ich mich mit der Welt, in Artikeln, Gedichten, Briefen oder Tagebucheinträgen.

 

Schreiben braucht Energie und Mut und kommt nicht ohne Gefühle aus.

 

Viele berühmte und unbekannte Schriftsteller haben sich die Zeit zum Scheiben genommen, für viele war es überlebensnotwendig.

 

 

 

Am besten gefällt mir noch, dass ich das, was ich denke und fühle, wenigstens aufschreiben kann, sonst würde ich komplett ersticken.“

 

16. 3. 1944 Anne Frank

 

Die Isoliertheit dieses Mädchens findet Ausdruck in einem Tagebuch das zurecht Schullektüre für viele Menschen ist und war. Der spontane und eindringlich ehrliche Selbstausdruck von Anne Frank, die mit Selbstzweifeln ringt, und nie Gelegenheit haben wird, Journalistin zu werden, berührt die ganze Welt und lässt uns staunen über jugendlicher Weisheit und Vertrauen.

 

 

Die Nacht ist wie ein großes Haus.
Und mit der Angst der wunden Hände
reißen sie Türen in die Wände -
dann kommen Gänge ohne Ende,
und nirgends ist ein Tor hinaus.

 

Rainer Maria Rilke
(1875 - 1926)

 

Rilke beschreibt hier auf großartige Weise, das Gefühl der Ausweglosigkeit, eingesperrt zu sein, vielleicht auch eingesponnen zu sein, in die eigene Gedanken- und Gefühlswelt- gefangen im eigenen Schneckenhaus.

 

In Zeiten, in denen ich mit niemandem reden kann, wenn der andere mich überhaupt nicht versteht, wenn ich mich in meiner eigenen Familie fremd fühle, oder wenn meine Worte, kein Echo finden, kann ich zumindest mit mir selber in einen Dialog eintreten.

 

 

 

Worthaus I

 

Im Worthaus wohnen

 

Wange an Papierseiten lehnen

 

mit Buchstaben atmen

 

Und hinter Worträtseln

 

verstecken

 

Niemand erwecken

 

Unter Sprachmustern schlafen

 

Die Wort Uhr tickt

 

So friedlich und bestimmt

 

Im Worthaus leben

 

als sei es die ganze Welt

 

Mein (H)eim und alles

 

 

 

Ein Tagebuch kann auch ein Zuhause sein, wie ein Freund, den wir besuchen können, wann immer wir wollen und uns dort, in diesem Raum, geborgen fühlen. Wenn die Unterhaltung mit anderen nicht gelingt ist der Dialog mit mir selbst, der erste Schritt.

 

Wenn ich Tagebuch schreibe, muss ich nichts scheinen, vorgeben oder Theater spielen. Ich kann meinen Schutzpanzer fallen lassen, ich kann offen und frei nach mir selbst, meinem innersten Empfinden und Erleben Ausschau halten.

 

Es müssen nicht immer die großen Fragen "wer bin ich?", "woher komme ich?" und "wohin gehe ich?" gestellt werden. Es sind die kleinen Details, die Nuancen unseres Geistes und unserer Seele, die mich faszinieren. -Die subtilen und leisen Stimmen in mir, die zart wie Schmetterlingsflügel an meine Seele pochen.

 

Mir alles, was mich bewegt von der Seele schreiben, hat etwas Heilsames.

 

Wer nachts oft wachliegt, weiß wovon ich spreche: endlose Gedanken schleifen, die uns quälen, wenn wir Sorgen haben oder eine Erlebnis mit dem wir nicht fertig werden.

 

"Einfach" aufschreiben und diese furchteinflößenden Grübeleien sind wie durch Zauberhand gebannt- zumindest für eine Weile.

 

Laut Studienlage kann das Schreiben uns helfen uns emotional zu entlasten,

 

kann depressive Symptome lindern und sogar das Immunsystem stärken.

 

Nach dem Schreiben verbrachten Probanden wesentlich mehr Zeit mit anderen. Sie sprachen mehr mit ihren Freunden, gaben sich dabei optimistischer und benutzten häufiger das Wort "wir" statt "ich". Man könnte sagen, sie hatten sich der Welt zugewandt,...[1]

 

 

Auch Astronauten wurden gebeten Tagebuch zu führen, um die lange Zeit im Weltall, isoliert von Freunden und Familie, besser zu überstehen. Psychologen kennen diese Wirkung, es gibt eine eigene Therapieform, therapeutisches Schreiben. Der Begründer ist James Pennebaker[2].

 

 

 

Alpträume aufzeichnen oder Briefe schreiben, die wir nie abschicken. Wenn ich mich von einem Menschen nicht verabschieden konnte, kann das wie eine Erlösung sein, nicht alles in mir behalten zu müssen, wie in einem Dampfkochtopf.

 

Durch Schreiben können wir Spannung abbauen. Wir können durch ein bisschen Selbstreflexion vielleicht auch eigenen Schwächen auf die Schliche kommen.

 

Das Erlebte und unsere Gefühle, mit ihrem Eigenleben, können wir so besser in unser Leben integrieren.

 

 

 

Mein Tagebuch soll sein wie eine Reisetasche, in die ich ungeprüft allen Krimskrams hineinwerfe. Wenn ich später nachsehe, ist das Durcheinander wie von Geisterhand geordnet, gesintert zu einem Ganzen, so fest und unnahbar wie ein Kunstwerk – aber so transparent, daß das Licht des Lebens durchscheint.
Virginia Woolf

 

 

 

Auch die kommende Jahreszeit und Jahreswende eignet sich sehr gut für eine Rückbesinnung und Innenschau, vielleicht geht Ihnen ja das eine oder andere Licht auf ;) .

 

 

 

"Meine Tochter (2,5 Jahre) wächst und gedeiht, sie kann schon Fragen formulieren, erhebt den Zeigefinger und belehrt andere- so goldig! Sie will selber Blumengießen, sich selber anziehen, spricht und kommentiert alles, einfach wundervoll!-"

 

10.7.1991

 

 

 

Mit diesen Worten wünsche ich Ihnen einen schönen Advent.

 

Mögen Sie Zeit und Raum für sich selber und für das Licht ihres Lebens finden. Mögen sie ein Tor hinaus finden und viele Schätze ans Licht bringen. Mögen Sie Ihr Herz leuchten lassen und mit diesem Schein viele Menschen berühren.

 

Ihre Martina Dismond

 



[1] aus "Schreib dich frei"

Artikel der Zeit über die verblüffende Wirkung des Tagebuchschreibens.

von Claudia Wüstenhagen

7. April 2016.

 

[2] James Pennebaker: Heilung durch Schreiben. Ein Arbeitsbuch zur Selbsthilfe. Huber Verlag Silke Heimes: Schreib dich gesund. Übungen für verschiedene Krankheitsbilder. Vandenhoeck & Ruprecht Verlag

 

 

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